Microliving

Mikro-Apartments wie Schlafwagons

Microliving In Schlieren ist in den letzten Monaten die Mikro-Apartment-Siedlung «Wagonlits» entstanden. Die Kleinstwohnungen eignen sich für Menschen, die mit wenig auskommen wollen oder müssen. Sebastian Mehl ist einer davon.

von Isabelle Wachter

Journalistin, Zürich

Geht man die Badenerstrasse in Schlieren entlang, stechen einem sofort die noch unfertigen Gleise der Limmattal-Bahn ins Auge. Bereits 2019 wurde die Tramlinie 2 von Zürich Altstetten nach Schlieren Geissweid verlängert. Im Dezember 2022 findet die Inbetriebnahme der zweiten Etappe statt. Ab dann fährt die Tramlinie 2 hoch zum Spital Limmattal und weiter bis zum Bahnhof Killwangen-Spreitenbach. Und somit auch vorbei an der neuen Mikro-Apartment-Siedlung «Wagonlits» an der Badenerstrasse 88. Das innovative Wohnbauprojekt in «Schlieren West» ergänzt das grosse Angebot von Drei- und Vierzimmerwohnungen, das in den letzten Jahren an dieser Lage entstand.

Die Siedlung besteht aus 173 Wohnungen. Der Grossteil der Wohnungen sind Ein-, Eineinhalb- und Zweizimmerwohnungen. Die Miete für ein 33 Quadratmeter grosses Mikro-Apartment beträgt zwischen 1200 und 1300 Franken. «Für ausgesuchte Teilstrecken auf der Reise des Lebens», heisst es auf der Website des Wohnprojekts. «Die Mieterschaft besteht hauptsächlich aus Singles im Alter zwischen 18 und 40 Jahren, darunter auch Studenten und Personen, die Schicht arbeiten. Das Wohnangebot eignet sich aber auch für Wochenaufenthalter», sagt Cyrill Lüscher von der Bellevia Immobilien GmbH, die für die Vermietung und Bewirtschaftung zuständig ist.

Raffinierter Grundriss

«Wagonlits» leitet sich vom französischen Wort wagon-lits ab und heisst Schlafwagen. Die Überbauung besteht aus vier Wohnhäusern – den Wagons I bis IV. Die überdurchschnittliche Raumhöhe von 2,68 Metern erlaubte den Einbau einer Ablage auf der Höhe von 2 Metern. Diese erinnert an die Hutablage in Zugwagons und dient als zusätzlicher Stauraum. Die Küchennischen der Mikro-Apartments bestehen aus zwei Kochflächen und einem Geschirrspüler. Der Dampfabzug fehlt. Das spart Platz. Dank des kleinen Reduits mit Schiebetür und Fenster kann das Bett auf Wunsch vom Wohnraum abgetrennt werden.

Community Building

Neben raffinierten Grundrissen stand bei der Planung auch die Bildung von Communitys im Zentrum. Denn Communitys brächten nicht nur den Mietern etwas, erklärt Lea Bürgi, Immobilientreuhänderin und Mitglied der Geschäftsleitung der Ecoreal Estate AG, der Bauherrenvertreterin für die Eigentümerin der Siedlung: «Ist der Aufbau einer Community in einer Überbauung erfolgreich, erhöht sich die Mieterzufriedenheit und es verringern sich die Fluktuation und somit auch die Verwaltungskosten. Bei dieser Überbauung erscheint uns der Aufbau einer Community besonders hilfreich, da wir aufgrund des jungen Alters der Mieterinnen und Mieter ohnehin mit einer höheren Fluktuation rechnen. Zudem gibt es erfahrungsgemäss weniger Konflikte zwischen den Parteien.» Genug Gründe, um bewusst Begegnungszonen zu schaffen. So erfolgt der Zugang zu den Wohnungen über Lauben, auf denen sich die Bewohnerinnen und Bewohner kreuzen und ins Gespräch kommen. Dennoch verfügt jede Wohnung über einen privaten Balkon. Da der Platz in den Mikro-Apartments rar ist, wurde auf Waschmaschine und Tumbler in den Wohnungen verzichtet. Dafür hat man grosse, helle und einladende Waschsalons in die Überbauung integriert. Die Reservation der Waschmaschinen erfolgt einfach und bequem via App. Waschen ist 24 Stunden an sieben Tagen die Woche möglich.

Im Innenhof entsteht zudem eine kleine Parkanlage mit Sitzgelegenheiten. Der Dogrun ist ein Gehege, in dem sich die Hunde austoben können, ohne dass sich andere Parkbesucher gestört fühlen. Er ist in seiner Art einzigartig und wird auch von Hundebesitzern ausserhalb der Siedlung rege genutzt. «Überhaupt haben wir festgestellt, dass das Bedürfnis nach Wohnraum, in dem Haustiere erlaubt sind, sehr gross ist», so Cyrill Lüscher.

Vom Digital Nomad zum Wagonlits-Bewohner

Es erstaunt nicht, dass dieses Wohnkonzept für Sebastian Mehl genau das richtige ist. Der 37-jährige Web-Entwickler hat die letzten sieben Jahre als Digital Nomad in Russland, China, Südostasien und Griechenland gelebt und gearbeitet. Bereits vor der Pandemie hat er mit dem Gedanken gespielt, sich wieder eine feste Bleibe in der Schweiz zu suchen. Corona hat diesen Entscheidungsprozess beschleunigt. Stolz zeigt er seine 33 Quadratmeter grosse Wohnung, in der alles Platz hat, was er zum Leben braucht: Schlaf- und Wohnzimmer, Küche, Bad und ein Tisch, der sowohl zum Essen als auch zum Arbeiten dient. Alles sehr klein, mikro eben, aber geschmackvoll eingerichtet. «Die Überbauung erinnert mich ein bisschen an die trendigen Hotels und Airbnbs in Südostasien. Deshalb habe ich mich hier sofort zu Hause gefühlt», erzählt Sebastian in Erinnerungen schwelgend. Er habe auch andere Einzimmerwohnungen besichtigt. Viele seien ca. 25 Quadratmeter gross, was ihm dann doch ein bisschen zu klein war. Denn auf dieser Fläche wäre es schwierig gewesen, den Schlafbereich elegant abzutrennen.

Ideal für den materiell minimalistischen Lebensstil

Sebastian hat die letzten sieben Jahre aus dem Rucksack gelebt und ist ein Lebensstil mit wenig Hab und Gut gewohnt. «Ich habe mich nicht aus idealistischen Gründen für einen materiell minimalistischen Lebensstil entschieden. Das hat sich vielmehr durch die Selbstständigkeit und später dann durch das Reisen ergeben. Trotzdem möchte ich nun nicht wieder viele Dinge anschaffen. Mir reichen diese Wohnung und das Mobiliar vollkommen.» Schaut man sich in seiner Wohnung um, scheint er nicht einmal das volle Volumen der Mikrowohnung auszunutzen. So hat er auf der «Hutablage» lediglich eine LED-Schiene für eine zusätzliche Passivbeleuchtung installiert. Keine Spur von zusätzlichen Kisten und Boxen voller Dinge, die verstaut gehören. «Ich möchte möglichst unabhängig bleiben. Manchmal überkommt mich ein Gefühl von Fernweh. Wenn die Pandemie vorbei ist, möchte ich wieder ab und zu einen oder zwei Monate im Ausland verbringen. Dank der günstigen Wohnungsmiete ist das möglich, ohne dass ich die Wohnung untervermieten muss.»

Mikro-Apartments

2018 hat das Gottlieb Duttweiler Institut im Auftrag des Immobilienunternehmens i Live Schweiz die Studie «Microliving – Urbanes Wohnen im 21. Jahrhundert» veröffentlicht. Laut dieser Studie gelten in der Schweiz Wohnungen mit ca. 30 Quadratmetern als Mikro-Apartments. Dieser Wert unterscheidet sich von Land zu Land. In Asien ist man sich viel kleinere Wohnflächen gewohnt. So wohnen die Menschen im Nagakin-Kapselturm in Tokio auf 5,78 Quadratmetern. An der US-amerikanischen Westküste beträgt das Normverständnis für ein Mikro-Apartment 28 Quadratmeter, während an der Ostküste bereits Wohnungen mit 37 bis 46 Quadratmetern als solche gelten.

 

Der Mikro-Apartments-Trend ist auf den gesellschaftlich strukturellen Wandel zurückzuführen, der zu urbaner Verdichtung führt. Das Bundesamt für Statistik prognostizierte in seiner jüngsten Berechnung im Jahr 2020 einen Anstieg der Einzelhaushalte in der Schweiz von 1,4 auf 1,8 Millionen bis im Jahr 2050. Das entspricht einem Zuwachs von 30 Prozent und erklärt auch die erhöhte Nachfrage nach kleinen Wohnungen. Das bestätigt auch Cyrill Lüscher von der Bellevia Immobilien GmbH, welche die Wagonlits-Apartments vermietet. Vor allem in der Agglomeration gebe es einen Mangel an kleinen Wohnungen. «Die Nachfrage war enorm, trotz Pandemie und Bedürfnis nach grösseren Wohnungen mit Homeoffice. Alle Wohnungen waren innert ein bis zwei Monaten nach Inserierung vermietet. Wir hätten die Überbauung problemlos komplett ein zweites Mal vermieten können.»

Dossier «Wohnen heute & morgen»

Diese Reportage ist Teil des Dossiers Wohnen heute & morgen. Lesen Sie weitere Reportagen im Dossier und erfahren Sie mehr über aussergewöhnliche Wohnformen sowie neue Formen des Zusammenlebens für Jung und Alt.